“Meine Station” ist ein einzigartiges Pilotprojekt: Eine Station in einem deutschen Krankenhaus, die nach dem Zusammenarbeitsmodell der Selbstorganisation funktioniert.
„Ich arbeite gern in der Pflege, aber die Bedingungen machen mich kaputt.“ Wahrscheinlich ein Satz, der für sehr viele Menschen in Pflegeberufen gilt. Unterbesetzung, Überlastung und hoher Dokumentationsaufwand prägen den deutschen Klinikalltag. Dabei sollte sich die Arbeit eigentlich um Menschen und ihre Pflege drehen.
Mit dem Pilotprojekt „Meine Station“ startete ein Experiment, das System von innen heraus zu verändern. Aus einem positiven Zukunftsbild eines nachhaltigen und selbstbestimmten Wandels entstand im Sommer 2022 „Meine Station“ am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau. Hier bauen wir eine chirurgische Station neu auf, wobei wir insbesondere unsere Zusammenarbeit als interdisziplinäres Stationsteam völlig neu denken. Das Entscheidende: Wir können unsere Arbeitsbedingungen überwiegend selbst gestalten und so unsere eigenen Bedürfnisse bestmöglich in den Arbeitsalltag integrieren. Die Station ist nicht in die klassischen Hierarchien eingebettet. Das bedeutet beispielsweise: keine Pflegedienstleitung.
An die Stelle der strikten Trennung von ärztlichem Dienst und Pflege treten neue Rollenkonzepte, die dazu dienen, die Potenzialentfaltung jedes Einzelnen zu ermöglichen. Begleitet werden wir von einem interprofessionellen Team aus Mediziner*innen und Expert*innen für Organisations-, Teamentwicklung und Selbstorganisation.
Zudem wird eine Evaluation durch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen durchgeführt.
Hubertus Schmitz-Winnenthal
Chefarzt der CK1
„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim alten zu lassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Albert Einstein
Nadja Nardini
Beraterin für Organisationsentwicklung
Mit meiner Arbeit möchte ich die (Arbeits-)Welt verändern. Bei "Meine Station" geht es nicht nur um die Zukunftsfähigkeit eines Systems und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, sondern um das Wohl unserer Gesellschaft.
Felix Herter
Organisationsentwicklung bei TheDive, Berlin
Für eine selbstorganisierte Station braucht es neben Strukturveränderungen im Außen einen Kompetenzaufbau der Mitarbeiter*innen im Innen, um die Stationsarbeit nachhaltig für das Team und die Patient*innen zu verbessern.
„Meine Station“ ist ein Pilotprojekt am Klinikum Aschaffenburg für selbstorganisierte Zusammenarbeit im Krankenhaus. Hier wird die Zusammenarbeit aller Mitarbeitenden neu gedacht: berufsgruppen- und hierarchieübergreifend. Im Gegensatz zu klassisch aufgebauten Stationen gestaltet das Stationsteam die Arbeitsbedingungen überwiegend selbst, trifft gemeinsame Entscheidungen und kann so die eigenen Bedürfnisse bestmöglich in den Arbeitsalltag integrieren. Neben der Möglichkeit, Strukturveränderungen selbst vornehmen zu können, spielt auch die Erweiterung innerer Kompetenzen der Mitarbeitenden eine zentrale Rolle.
Für das Stationsprojekt hat sich ein komplett neues Team aus hausinternen und externen Bewerber:innen zusammengefunden. In einer viermonatigen Vorbereitungs- und Teamfindungsphase erhielte die Mitarbeitenden eine Ausbildung von Expert:innen für Organisationsentwicklung in u.a rollen- und spannungsbasiertem Arbeiten, gewaltfreier Kommunikation und Selbstorganisation.
Der Fokus liegt auf der interprofessionellen Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe, synergetischen Tagesabläufen und Strukturen, die auf die Bedürfnisse der Belegschaft sowie der Patienten:innen ausgelegt sind. Besonders ist am Vorgehen, dass diese Strukturen und Prozesse von den Mitarbeitenden selbst entwickelt, angepasst und nicht von oben herab oder sogar von extern diktiert werden.
Außerdem wurden die Abläufe auf Station verändert, sodass die Patient:innen aktiv in ihren Behandlungs- und Heilungsprozess einbezogen werden. So gibt es beispielsweise keine Visite mehr. Stattdessen findet eine Visitensprechstunde statt, welche die Patient:innen aktiv besuchen. Auch wird das Essen nicht mehr regulär im Bett serviert, sondern die Patient:innen haben die Möglichkeit, gemeinsamen im Bistro zu essen. Der Impuls hinter diesen Veränderungen ist, die Patient:innen so bald wie möglich aktiv an ihrem Heilungsprozess zu beteiligen und sie möglichst gut auf die neue Situation nach der OP im häuslichen Umfeld vorzubereiten. Dazu gehören auch Patient:innenschulungen schon vor dem Krankenhausaufenthalt.
„Ich arbeite gerne in der Pflege, aber die Bedingungen machen mich kaputt.“ Dieser Satz gilt für sehr viele Menschen in Pflegeberufen. Seit Jahren prägen zunehmende Unterbesetzung und Überbelastung den Stationsalltag in deutschen Kliniken.
Mehr und mehr wird deutlich, dass klassische Organisationsstrukturen mit strengen Hierarchien, Bürokratie und Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren. Es werden Entscheidungen von oben getroffen, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen nicht einbeziehen, deren Arbeit nicht wertschätzen und keinen Raum zu Mitgestaltung geben. Das Gesundheitssystem wurde zunehmend ökonomisiert und das Bereichernde am Pflege- und Gesundheitsberuf wird zunehmend nicht mehr erkannt.
Prof. Dr. Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der Allgemeinchirurgie am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau beschäftigt sich deshalb schon länger mit der Frage nach neuen Formen der Zusammenarbeit. Im Jahr 2022 ließ er sich zum Loop-Fellow ausbilden und startete daraufhin mit den Ärzt*innen die Workshops des The Loop Approach® von TheDive, um die Methoden der Selbstorganisation in den Arbeitsalltag zu integrieren. Schnell war klar, dass es außerdem einen Ansatz bräuchte, um auch die Pflegekräfte in diesen Prozess einbinden zu können. Die Idee von „Meine Station“ war geboren.
Gemeinsam mit Nadja Nardini, Beraterin für Organisations- und Teamentwicklung und Loop-Fellow startete Hubertus Schmitz-Winnenthal als „we.health.care“ das Projekt „Meine Station“. Für die weitere Umsetzung wurde das Orga-Team um Felix Herter, Organisationentwickler und Experte für Selbstorganisation von TheDive und Helene von Bremen, Ärztin und Vorständin von New Work Medizin erweitert.
Unterstützt wurden sie von Clara Eisenberg, Karin Gödike und Tane Lammers, alle Mediziner*innen von New Work Medizin.
Der Tag auf “Meine Station” startet mit einem Check-in und der Übergabe. Die Patient:innen kommen morgens ca. ab 7 Uhr zur Messung ihrer Vitalzeichen ins Visitenzimmer. Dort erhalten sie auch ihre oralen Medikamente für den Tag. Danach geht es zum Frühstück ins Bistro. Ab 9 Uhr findet die Visite statt - wieder im Visitenzimmer. Gleichzeitig werden die OPs für den Tag vorbereitet und die Patient:innen zum OP gebracht. Im Laufe des Vormittags kommen Patient:innen mit einem geplanten Eingriff für ihre Schulung auf die Station. Das Mittagessen gibt es dann wieder im Bistro. Zwischendurch ist Zeit für Mobilisation, Grundpflege oder einfach nur Austausch. Der Tag endet wieder mit einer interdisziplinären Übergabe, dem Sync-Meeting und einem Check-out.
Im Gegensatz zu herkömmlichen Arbeitsmodellen, in denen Aufgaben und Verantwortlichkeiten an feste Stellen oder Positionen gebunden sind, werden im rollenbasierten Arbeiten Verantwortlichkeiten stärken- und kompetenzbasiert auf die Mitarbeiter*innen verteilt.
Auf „Meine Station“ gibt es beispielsweise keine klassische Stationsleitung mehr, die für administrative Aufgaben, wie z.B. Dienst- und Urlaubsplanung oder Materialbestellung zuständig ist, stattdessen werden sämtliche Aufgaben einer Stationsleitung auf verschiedene Teammitglieder verteilt. So werden Hierarchieebenen abgebaut und gleichzeitig die Transparenz im Team erhöht.
Neben diesen festen Rollen gibt es außerdem flexible Rollen, vor allem in der Patient:innenversorgung, die vor jedem Schichtbeginn verteilt werden. So gibt es beispielsweise die Rollen Blutabnehmer*in, Infusionsrichter*in, Medikamentenvorbereiter*in, OP-Nachsorger*in, OP-Vorbereiter*in, Pflegebedarfsermittler*in, Telefon- und Klingelbeauftragte*r, Verbandswechsler*in und viele mehr.
Eine Person mit der Rolle Teamkoordinator*in stellt sicher, dass jede*r für die jeweilige Schicht eine oder mehrere Rollen gefunden hat und macht die Verantwortlichkeiten der jeweiligen Rolle nochmal bewusst.
Wir alle erleben Tag täglich Spannungen in unserem Alltag. Das sind kleine und große Dinge, die uns stören oder erfreuen oder es Wert oder notwendig sind, geteilt zu werden. Meist gibt für solche Spannungen keinen Platz, sodass sie sich anstauen und nie ausgesprochen werden.
Die spannungsbasierte Arbeit basiert darauf, dass alle persönlichen Spannungen der Moto für Veränderung sind, wenn wir uns im gleichen Zug Gedanken darüber machen, was wir grade brauchen, um die Spannung zu lösen. Der Effekt ist mehr Eigenverantwortlichkeit und Lösungsorientierung, sodass wir raus aus dem Meckern und rein in die Mitgestaltung und Veränderung kommen.
Verbunden mit der täglichen Übergabe zwischen Früh- und Spätdienst findet das Sync-Meeting statt, in dem aktuelle Spannungen bearbeitet werden.
Für den aktuell noch intensiven Strukturaufbau findet einmal wöchentlich das Governance-Meeting statt, in welchem über Vorschläge zu Rollen oder Regeln der Zusammenarbeit entschieden wird.
Die Möglichkeit der Mitgestaltung durch spannungsbasiertes Arbeiten fördert die Identifikation der Mitarbeiter*innen mit ihrer Tätigkeit und der Station. Alle können gleichermaßen ihre Vorstellungen in die Abläufe einbringen. Damit werden die Strukturen und Prozesse vom Team für das Team gestaltet. Außerdem kann das Team schneller und flexibler auf Veränderungen und unerwartete Ereignisse reagieren und Prozesse anpassen.
Mit der gewaltfreien Kommunikation wird eine neue Stationssprache gelernt, mit der das Team Vertrauen aufbaut und Bedürfnisse aussprechen kann, um eine gemeinsame Haltung zu entwickeln.
Die Zusammenarbeit in Rollen ermöglicht Mitarbeiter*innen ihren persönlichen Einsatzbereich nach Stärken und Interessen erweitern zu können. Durch Weiterbildung werden neue Kompetenzen erlangt, um weitere Rollen übernehmen zu können. Sobald beispielsweise ein*e Pflegehelfer*in einen Nachweis über eine bestimmte Weiterbildung erbringt, kann diese*r auch die Rolle mit Verantwortlichkeiten übernehmen, die bisher nur durch eine examinierte Pflegekraft getragen wurde. Das fördert nicht nur die individuelle Entwicklung und Potenzialentfaltung, sondern bringt auch Entlastung für die examinierten Pflegekräfte.
Von den Patient*innen gibt es sehr positives Feedback. Besonders positiv wird aufgenommen, dass sie aktiv in ihren Behandlungsprozess einbezogen werden und deutlich selbstständiger ihre postoperative Heilungs- und Genesungszeit gestalten können.
Am Ende eines jeden Stationsaufenthalts nehmen die Patient*innen an einer Befragung teil. Auch diese zeigt bisher sehr große Zufriedenheit. Die persönlichen Gespräche bestätigen, dass sich die Patient*innen auf „Meine Station“ sehr wohl und gut um- und versorgt fühlen.
Eine Herausforderung war beispielsweise die Mitarbeiter*innen, die von extern neu ins Klinikum gekommen sind, neben der Patient*innenversorgung in der neuen Zusammenarbeit zeitgleich in die klinikspezifischen Prozesse einzulernen.
Außerdem war es ein spannender Prozess, „Meine Station“ sowohl sozial, als auch juristisch abgesichert im restlichen Haus anzusiedeln. Z.B. musste eine neue Betriebsvereinbarung verabschiedet und bestehender Organisationsrichtlinien verändert werden.
meine-station@klinikum-ab-alz.de
oeffentlichkeitsarbeit@klinikum-ab-alz.de