Karina, was ist bei euch im letzten halben Jahr passiert und entstanden?
Ja gern, ich arbeite jetzt seit sechs Jahren am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau und in dieser Zeit wurde immer wieder nach Ansätzen und Lösungen gesucht, um das Arbeiten miteinander und für den Patienten einfacher und besser zu gestalten. So richtig bahnbrechende Lösungen hat es da bis jetzt nicht gegeben, bis uns unser Chef den Loop-Approach vorgestellt hat. Das machen wir jetzt seit Anfang 2022. Zunächst gab es ein bisschen theoretischen Input, dann Tagesfortbildungen während der Arbeitszeit, in denen wir erste Eindrücke gewonnen haben, was der Loop-Approach ist, wie er funktioniert, welche Gedanken dahinterstecken und was Selbstorganisation bedeutet. Das Ganze mündete dann in die Modulausbildung. Das sind jeweils zweitägige Seminare alle zwei bis drei Monate außerhalb der Klinik begleitet von einer externen Loop-Expertin aus Berlin. Und so haben wir den Ansatz immer besser kennengelernt. Bis jetzt hatten wir schon zwei Module und das dritte steht an.
Für mich bedeutet der Loop-Approach ein schrittweises Erlernen der Selbstorganisation und das reevaluieren unserer Veränderungen. Das heißt, wir schauen immer wieder an den Punkt, an dem wir angefangen haben, um von dort aus Dinge zu verändern, die Prozesse zu verbessern, um sich schrittweise selbst zu organisieren. Das ist am Anfang natürlich sehr viel Theorie. Die praktische Umsetzung ist für mich auch manchmal nicht ganz einfach zu erklären. Aber im Moment versuchen wir viele von den Methoden in unseren Arbeitsalltag zu integrieren und spannungsbasiert zu arbeiten. Spannungen sind quasi der Treibstoff der Veränderung, was dazu führt, dass wir gute Dinge, aber auch schlechte Dinge ansprechen und versuchen, sie im Team zu lösen. Schritt für Schritt.
Hast du da mal praktisch zwei oder drei Beispiele, was sich bis jetzt in eurem Arbeitsalltag verändert hat?
Das erste ist, dass wir einen Spannungsspeicher eingeführt haben. Das ist eine Plattform, auf der jeder im Team Informationen teilen kann, sodass alle Bescheid wissen. Hier bringen wir unsere positiven oder negativen Spannungen, um dann im nächsten Schritt Lösungen für diese Spannungen zu suchen.
Der Spannungsspeicher ist eine digitale Plattform, auf die wir jederzeit Zugriff haben. Das heißt, ich kann auch von zuhause noch Ideen, Spannungen und Infos hinzufügen: Sachen, die ich schon immer mal ansprechen wollte, oder Abläufe, die suboptimal organisiert sind, oder es ist was ganz Tolles passiert, das ich mit dem Team teilen möchte. All diese Sachen können wir im Spannungsspeicher verschriftlichen und dann in der nächsten Frühbesprechung vorstellen.
Diese Besprechung findet jeden Morgen statt und ist eine Art Synchronisierungs-Meeting, das wir eigentlich schon seit Jahren machen. In erster Linie werden hier Daten und Fakten aus dem dienstlichen Betrieb geteilt, was ist operiert worden, welche Aufnahmen gab es, welche Probleme gab es, was steht an für den Tag?
Jetzt haben wir die Besprechung um zehn Minuten erweitert, um den Spannungsspeicher nach und nach abzuarbeiten. Das heißt der Spannungsinhaber stellt seine Spannung vor und beschreibt was er als nächsten Schritt vorhat. Um das aber gut und effektiv zu machen, muss man sich an gewisse Regeln der Gesprächsführung und Lösungsfindung halten, um dann auch in kürzester Zeit Probleme bzw. Spannungen zu lösen oder zumindest den nächsten Schritt festzulegen.
Gab es am Anfang Vorbehalte gegenüber den neuen Methoden und wie seid ihr damit umgegangen bzw. hat sich das im Verlauf verändert?
Klar, am Anfang war da auf jeden Fall Skepsis und auch die Frage, wie viel extra Arbeit wird da verlang? Außerdem sind wir halt Ärzte und haben gern einen genauen Fahrplan: wo geht’s lang, was muss ich wann machen, wenn der und der Fall eintritt, was kommt hier auf mich zu?
Wir haben jetzt aber gemerkt: Das muss nicht unbedingt so sein! Veränderung ist ein Prozess, der bei uns jetzt seit einigen Monaten läuft und wir Schritt für Schritt immer wieder Neues lernen. Das Ziel ist ja Selbstorganisation und was das für uns konkret bedeutet, kann niemand vorher genau sagen.
Dass viele da erstmal Vorbehalte haben und Angst vor tonnenweise Mehrarbeit haben, ist verständlich. Im Endeffekt ist es aber so, dass wir keine extra Aufgaben übernehmen müssen. Der Stationsalltag läuft erstmal klassisch weiter. Nur wenn es darum geht, was wann und wie gemacht werden soll, dann besprechen wir das jetzt von Vornherein im Team, sodass es nicht mehr nur Vorgaben von oben gibt, wie Sachen zu laufen haben. Denn es geht ja primär um unser Bedürfnis, eine gute und erfolgreiche Patientenbehandlung hinzukriegen, indem wir nicht nur den Patienten, sondern auch uns und unsere Bedürfnisse berücksichtigen.
Und um das zu erfüllen, gibt es verschiedene Aufgaben, die gemacht werden müssen. Dann gibts Leute, die vor allem für die Pflege und Patientenversorgung brennen, andere haben vielleicht außerdem Lust und Erfahrung im Dienstplanschreiben. Und dann besprechen wir im Team, ob die Rolle z.B. der Dienstplanung dann auch von dieser Person besetzt werden soll, ob es andere Interessenten gibt etc. Und darum geht es im Prinzip, dass jeder zu jedem Zeitpunkt weiß, diese Rolle hat eine ganz klare Definition, also bestimmte Aufgaben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein sollen und dass alle wissen, wer diese Rolle besetzt. Das können sowohl erfahrene Leute mit dieser Aufgabe sein, das können aber auch ganz neue Leute sein, die sagen sie haben Lust auf diese Aufgabe und wollen sich gern da einarbeiten. Und das ist der Punkt, an dem man den Leuten die Angst nehmen kann, dass sie mehr arbeiten müssten. Es geht nicht darum mehr Arbeit oder Aufgaben zu machen, sondern darum, dass die Aufgaben gut verteilt sind, sodass wir sie besser ausfüllen können.
Was hat sich nach einem halben Jahr mit den neuen Strukturen für dich persönlich verändert?
Ich habe auf jeden Fall das Gefühl, dass sich bei uns was tut. Wir sind besser informiert, wissen besser Bescheid über die Spannungen der anderen Kollegen und die alltäglichen Probleme der anderen. Und jetzt gibt es einen echten Raum, um diese Dinge zu besprechen. Wenn wir ehrlich sind, reden wir ja grundsätzlich meist darüber, was uns stört, aber eben auf dem Flur zwischen Tür und Angel. Und dann sind es eigentlich auch nur negative Dinge, positive Sachen erwähnt man ja doch eher selten im Arbeitsalltag, entweder es läuft und wenn es nicht läuft, beschwert man sich drüber. Und durch diese gezielten Meetings haben wir jetzt eine bessere Plattform diese Dinge anzusprechen. Außerdem haben wir die sogenannten Steuerungsmeetings, in denen wir gemeinsame Veränderungen vorantreiben, Ideen ausarbeiten und dann dem gesamten Team präsentieren. Danach beschließen wir gemeinsam, ist dieser neue Vorschlag sicher genug, um ihn auszuprobieren und alle stimmen darüber ab oder legen ihr Veto ein, wenn sie sagen, ne das ist noch nicht sicher genug, das muss nochmal verändert werden. Und das ist schon etwas Neues und ich muss sagen, von unserer Seite wird das ziemlich positiv aufgefasst. Unsere Skepsis löst sich nach und nach auf und wir sind echt super motiviert, mit der neuen Station zu starten.
Aus Sicht der Pflege ist es, wie ich gehört habe, leider ein bisschen schwierig, weil da die Kommunikation leider ein bisschen unglücklich verlaufen ist. Dass da Missverständnisse entstanden sind, wir wollten sie ersetzten oder hätten keine Lust auf unser altes Pflegeteam oder auch die Einladung, mit uns dieses Projekt auszuprobieren, als negativen Druck empfunden haben, weil wahrscheinlich einfach das Konzept und der Loop-Approach noch nicht gut genug kommuniziert und erklärt wurden bzw. vielleicht auch die Bereitschaft dafür noch nicht da ist. Meist ist es ja so, dass das, was neu ist auch Angst provoziert. Angst vielleicht um die Arbeitsstelle, Angst, dass es zu viel neues auf einmal ist.
Hierarchien sind gerade in der Chirurgie immer wieder ein großes Thema. Wie ist deine Einschätzung, könnte sich durch die neue Art zu Arbeiten auch etwas an dem Hierarchiesystem verändern?
Ja, Hierarchie ist bei den Chirurgen natürlich immer so ein Thema. Vor allem, was die fachlichen Kompetenzen angeht. Es ist klar, dass der Chefarzt am besten die Komplikationen einer Operation managen kann und dass dann nach unten diese Kompetenzen abnehmen. Das ist auch ganz normal. Da müssen gewisse Hierarchien auch weiter erhalten werden. In unserem Team ist es schon immer so, dass wir verhältnismäßig flache Hierarchien haben. Auch wenn natürlich auf fachlicher Ebene die Vorgaben, die von oben kommen, weiter erfüllt werden müssen. Das ist ein recht starres System. Aber ich habe auch nicht vor, morgen den Whipple zu operieren, nur weil ich da grade Lust darauf habe.
Aber es geht ja nicht nur um fachliche Kompetenzen. Und gerade, was diese anderen Bereiche angeht, sind wir doch oft noch in sehr alten Denkweisen gefangen. Mich erinnert das häufig ein bisschen an eine Eltern-Kind-Beziehung: ich habe ein Problem und gehe damit zu meinen Eltern oder meinem Vorgesetzten, präsentiere das Problem und erwarte eine Lösung. Dieses System ist aber dahingehend schlecht, dass es Druck nach oben aufbaut und unten die komplette Verantwortung abgibt. Und da ist das Problem, dass die vorgesetzten Personen, da meine ich neben Ober- und Chefärzten auch die Klinikleitung und Verwaltung, gar nicht genau wissen, was ich in diesem Moment konkret brauche, um mein Problem zu lösen. Am Ende wird mir dann eine Lösung vorgeschlagen, die mir nicht wirklich weiterhilft.
Durch unsere neuen Strukturen habe ich nicht nur das Tool zur Hand, mein Problem selbst zu präsentieren, sondern kann auch gleich einen eigenen Lösungsweg vorzuschlagen, der für mich gut wäre. Ich muss mir also selbst Gedanken über mein Problem machen und dadurch wird man wieder ein bisschen mündiger. Das heißt ich beschwere mich nicht nur, sondern suche selbst nach einer Lösung, damit ich meine Spannung, mein Problem lösen kann, damit es mir besser geht. Und das kann ich auch als „kleiner“ Assistenzarzt. Es gibt Probleme, die kann ich allein lösen. In meinem Fall war das z.B., dass mich die Aufteilung der Blutentnahmewagen total genervt hat. Also habe ich vorgeschlagen, dass ich mir ein vernünftiges System überlege, den Wagen einmal säubere, neu einräume und die Fächer beschrifte.
Dann gibt es Probleme, die betreffen alle, die kann ich nicht allein lösen. z.B. dass der Wagen oft nicht vernünftig aufgefüllt ist. Das betrifft mich, meine Kollegen und die Pflege. Und da muss man dann gemeinsam eine Lösung finden. Es fängt aber damit an, dass ich das Problem erstmal ganz konkret benennen muss - was stört mich und wie will ich das verändern? Und dann kann ich mit diesen Denkanstößen weitere Schritte einleiten, anfordern etc.
Und somit können wir die Hierarchien, was das Alltagsgeschäft angeht, ein bisschen auflösen. Ich kann meine Probleme selbst lösen und muss nicht immer oben um Hilfe bitten und dadurch bin ich selbst empowert. Das finde ich eine ganz tolle Sache.
Das hört sich richtig gut an! Ich habe noch eine letzte Frage: Was wünschst du dir für deine Zukunft und für das Projekt „Meine Station“?
Ich wünsche mir, dass alle offen für Neues sind und ein gutes Durchhaltevermögen mitbringen. Natürlich hat es neben den ganzen positiven Sachen, die ich jetzt genannt habe, auch kleinere und größere Kämpfe gegeben. Und diese Kämpfe stehen uns auch noch weiter bevor, wenn wir diese selbstorganisierte Station realisieren wollen. Deshalb wünsche ich mir für die holprigen Momente, dass alle am Ball bleiben, motiviert sind und gemeinsam Lösungen und nächste Schritte finden. Also wenn ich mir was wünsche, dann ist es Zusammenhalt und Durchhaltevermögen. Alles andere bringen wir schon mit: die Fachkompetenz ist da, die Motivation ist da, wir wollen eigentlich alle das gleiche: eine gute Patientenversorgung, zufriedene Patienten, zufriedene Mitarbeiter und wenn wir alle zusammenhalten, könnte das gut werden.