Ein Beitrag von Nadja Nardini.
Ein Jahr intensives Miteinander, empathische Patient:innenversorgung und persönliche Schicksale. Ein Jahr voller Lachen, Weinen, Freundschaften, Neugierde, Lernen, Erfahrungen, Veränderungen, Neuem und wiederentdecktem Altem.
Die Geschichte von „Meine Station“ beginnt im Mai 2022 mit einer für das Krankenhaus außergewöhnlichen Idee: Wie wäre es, ein Umfeld zu schaffen, in dem die medizinischen Berufe gemeinsam ein eigenes bedürfnisorientiertes Betriebssystem erschaffen und eine empathische Patient:innenversorgung wieder in den Mittelpunkt stellen können?
Kurze Zeit später hatten sich Prof. Dr. Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der Allgemeinchirurgie am Klinikum Aschaffenburg, Nadja Nardini und Felix Herter zum ‚Orga-Team‘ zusammengefunden und machten sich gemeinsam auf die Reise, um aus dieser Idee Wirklichkeit werden zu lassen; „Meine Station“, ein Pilotprojekt für selbstorganisierte Zusammenarbeit im Krankenhaus. Eine Reise durch ganz neue Gefilde voller Erfahrungen, Erkenntnissen und Herausforderungen, Menschlichkeit und Freundschaft.
Der Start dieses außergewöhnlichen Projekts
Im Juli erschien im Main-Echo ein Bericht über dieses einzigartige Vorhaben und Interessierte konnten sich über die eigene Website weiter informieren. Die Station würde nicht in den üblichen Hierarchien eingebettet sein, also beispielsweise nicht der Pflegedienstleitung unterliegen und auch keine Stationsleitung haben.
Stattdessen würde der Fokus auf einer stärken- und kompetenzbasierten Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe, synergetischen Tagesabläufen und Strukturen liegen, die auf die Bedürfnisse der Belegschaft ausgelegt sind. Besonders wäre dabei, dass diese Strukturen von den Mitarbeitenden selbst entwickelt, kontinuierlich angepasst und nicht von oben herab vorgegeben werden. Für das Pilotprojekt würde nicht nur eine leerstehende Station, sondern auch das Stationsteam von Grund auf neu aufgebaut werden. Für „Meine Station“ gab es keine Blaupause.
Ein einzigartiges Team findet sich
Für die Umsetzung brauchte es also erst einmal genug Menschen, die motiviert und mutig waren, sich auf dieses Vorhaben einzulassen und Veränderung aktiv mitzugestalten. Es gab über 70 Bewerbungen von qualifizierten und motivierten Menschen – ein Großteil davon von extern, von denen einige sogar den Pflegeberuf verlassen hatten und mit diesem Projekt ihrem alten Beruf nochmal eine Chance geben wollten.
„Zum Thema Selbstorganisation habe ich mir im Grunde gar keine Gedanken gemacht.
Da stand, dass die Zusammenarbeit anders gestalten werden sollte. Da stand Hoffnung für mich.“
Gemeinsam wachsen und lernen
Zur Teamfindung wurden die Bewerber:innen über den Sommer zu verschiedenen Workshops eingeladen, in welchen sie sich gegenseitig kennenlernten, das Konzept der Selbstorganisation vorgestellt und eine erste Vision von „Meine Station“ entwickelt wurde. Anschließend entschieden die Bewerber:innen sich selbst für oder gegen „Meine Station“ und bildeten gemeinsam das neue Team.
Im November 2022 ging das neu gefundene Stationsteam mit 23 Pionier:innen zusammen auf Loop-Reise. Im Rahmen des Teamentwicklungsprozesses lernten die Mitarbeiter:innen Prinzipien, Tools und Methoden der selbstorganisierten Zusammenarbeit und erarbeiteten gemeinsam, wie sie als Team zusammenarbeiten, die Organisation der Station gestalten und die Versorgung der Patient:innen durchführen wollen würden. Darüber hinaus standen die Ausstattung und Nutzung der Station im Fokus, um die Räume der leeren Station mit Leben zu füllen.
„Sein eigenes Arbeitsumfeld so entscheidend prägen zu dürfen, ist eine wirkliche Besonderheit und ein großes Privileg.“
Und dann war es endlich soweit. Im Februar 2022 öffnete „Meine Station“ ihre Pforten für die Patient:innen und das bisher vor allem theoretische Grundgerüst ging in den Praxisbetrieb.
Und ein Jahr später…
„Wir sind als bunter Menschenhaufen gestartet und dann immer mehr zu einem Team geworden. Wir haben ein paar Kolleg:innen auf der Reise verloren, aber viele neue dazugewonnen.“
Für viele der Pionier:innen ist das „Meine Station“ sehr aufregend gestartet. Keiner konnte abschätzen, was wirklich passieren und wo das alles hinführen würde. Alles begann im Grunde mit einem Stück weißen Papier. Das Team definierte Strukturen und Prozesse, traf gemeinsam Entscheidungen und übernahm ganz neue Verantwortlichkeiten. Heute finden sich auf dem Papier Rollen, Kreise und ein Purpose, der auch ein Jahr später noch dieselbe Aussagekraft und Bedeutung hat wie an dem Tag, an dem das Team diesen gemeinsam definierte.
Auf „Meine Station“ gibt es einen anderen Arbeitsalltag. Die Motivation macht vor allem aus, persönlich Verantwortung für die Weiterentwicklung der Patient:innenversorgung übernehmen zu dürfen - die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass sie an anderer Stelle gelöst werden.
Und die Patient:innen? Die fühlen sich sehr gut aufgehoben auf „Meine Station“.
„Was muss ich tun, um wieder auf diese Station zu kommen, wenn ich das nächste Mal kommen muss?“
Herausforderungen und Erfolge
Das Team hat wahnsinnig viel erreicht in diesem einen Jahr – auch wenn es sich zuweilen nicht so anfühlt. Manchmal fragt sich die Pionier:innen, was mache ich hier eigentlich?
„Aber trotzdem würde es mir nicht in den Sinn kommen zu gehen“
Denn nicht nur die enorme Geschwindigkeit der Veränderung hat manchmal überfordert. Mitarbeitende, die von extern neu ins Klinikum gekommen sind, mussten neben der neuen Zusammenarbeit auch die klinikspezifischen Prozesse lernen. Und manchen Kolleg:innen fehlte dazu auch die fachliche Expertise. Aber das Team unterstützt sich gegenseitig.
Konflikte, die in den traditionellen Strukturen oft einfach ignoriert werden, erhalten hier einen Raum. Und fühlen sich daher manchmal umso intensiver an. Aber das Team scheut sich nicht davor, diese langsam anzugehen.
Festgelegte Prozesse funktionieren manchmal nicht auf Anhieb. Aber das Team findet immer wieder Energie, um diese in kleinen Schritte anzupassen – bis es passt.
Safe enough to try – good enough for now.
Und manchmal holen die Teammitglieder eben auch alte Muster wieder ein. Aber das Team hält zusammen.
„Ich spüre auf Station eine große Verbundenheit.“
Es ist die Beständigkeit des Teams, die es möglich macht, dass Menschen in diesem Team ankommen können. Diese Beständigkeit gibt es im Krankenhaus kaum mehr. Das Team von „Meine Station“ hält trotz der Herausforderung zusammen und unterstützt sich gegenseitig. Und auch mit dem ärztlichen Team wächst das Stationsteam immer weiter zusammen.
„Rückblickend war das letzte Jahr für mich ein "Ankommen".
Ich bin wieder in einem Beruf angekommen, den ich eigentlich mal gelernt habe, weil er mir Spaß macht.“
Und schließlich hat sich auch jede:r einzelne Mensch im Team wahnsinnig entwickelt. Sich in anderen Rollen, mit anderen Aufgaben und in vorher unbekannten Bereichen frei bewegen und entwickeln zu dürfen, ist eine Chance, die sie vorher in diesem Maße nicht hatten.
„Ich habe sehr viel lernen dürfen – menschlich, fachlich und über mich selbst.“
Auf das nächste Jahr „Meine Station“.