Wie alles begann
Im Juli 2022 startete am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau ein einzigartiges Projekt: „Meine Station“.
Ziel des Projektes war es eine neue allgemeinchirurgische Station aufzubauen. Das Besondere daran: Diese Station sollte den Sinn und Zweck haben, eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin und Pflege zu ermöglichen und den Raum für eine mitfühlend menschliche und nachhaltig bedürfnisorientierte Entwicklung zu geben. Dafür sollte das Zusammenarbeitsmodell der Selbstorganisation dienen mit der Vision, dass die Mitarbeiter:innen ihre Bedürfnisse in den Arbeitsalltag integrieren und Patient:innen mit Empathie und ausreichend Zeit versorgen.
Dafür brauchte es erst einmal mutige Pionier:innen, die Teil dieser Station sein und damit auch aktiv eine Veränderung mitgestalten wollten. Denn Selbstorganisation bedeutet auch ein Bruch mit den bisher bekannten Organisationsstrukturen. Es gab 74 Bewerbungen. Die einzigen Bewerbungsanforderungen waren eine nachweislich medizinische Berufsausbildung sowie eine Antwort auf die Frage: „Warum möchtest Du bei „Meine Station“ dabei sein.
Die Bewerber:innen lernten sich und das Vorhaben im August und September 2022 bei einem Workshop zur Teamfindung kennen. In einem weiteren Workshop zur Teamzusammenführung im Oktober 2022 wurde dann eine erste gemeinsame Vision von „Meine Station“ erarbeitet und kleine Projektgruppen zu den Themen Abläufe, Ausstattung, Dienstplan, Fortbildung sowie Versorgungskette gegründet. Und damit war nicht nur das Team für „Meine Station“ gefunden, sondern die Bewerberinnen hatten sich im Grunde selbst dafür ausgesucht.
Im November 2022 startete schließlich der Team- und Stationsaufbau. Im Rahmen von The Loop Approach® von TheDive lernten die Pionier:innen in Workshops die Prinzipien, Werkzeuge und Methoden der selbstorganisierten Zusammenarbeit kennen. Auf dieser Basis hat das Team dann begonnen, ihre Zusammenarbeit zu gestalten sowie Strukturen und Prozesse zu definieren.
Im Januar 2023 wurde die Station C03 startklar gemacht. Und am 1. Februar 2023 war es endlich so weit. Nach langer und vor allem theoretischer Vorbereitung starteten 26 Pionier:innen in den Praxisbetrieb.
Was ist anders als auf einer normalen Station?
Der Fokus liegt auf der interprofessionellen Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe, synergetischen Tagesabläufen und Strukturen, die auf die Bedürfnisse der Belegschaft sowie der Patienten:innen ausgelegt sind. Besonders ist am Vorgehen, dass diese Strukturen und Prozesse von den Mitarbeitenden selbst entwickelt, angepasst und nicht von oben herab oder sogar von extern diktiert werden.
Rollenbasierte Zusammenarbeit
Die Verantwortlichkeiten werden stärken- und kompetenzbasiert auf die Mitarbeiterinnen der Station verteilt. Das geschieht mit Hilfe von Rollen. Damit tritt anstelle einer Personenhierarchie, eine Aufgaben- und Purposehierarchie. Es gibt fest zugeteilte Rollen mit Verantwortlichkeiten rund um die Organisation der Station sowie flexible Rollen, insbesondere entlang des Patient:innenbehandlungspfads, die sich die Mitarbeiterinnen vor jedem Schichtbeginn zuteilen. Dabei gibt es Rollen wie Blutabnehmer:in, Infusionsrichter:in, Medikamentenvorbereiter:in, OP-Nachsorger:in, OP-Vorbereiter:in, Pflegebedarfsermittler:in, Telefon- und Klingelbeauftragte:r, Verbandswechsler:in und viele mehr.
Die Teamkoordinator:in stellt sicher, dass jede:r für die jeweilige Schicht eine oder mehrere Rollen gefunden hat und macht die Verantwortlichkeiten der jeweiligen Rolle nochmal bewusst.
Die Flow-Unterstützer:in stellt sicher, dass Kompetenz und Anforderung so gegeben sind, dass das Team im Flow arbeiten kann. Bei fehlender Kompetenz kann mit Hilfe einer Peer-to-Peer-Liste direkt durch die Expertise der Kolleg:innen schnell und unkompliziert nachgesteuert werden. Bei Überbelastung kann die Flow-Unterstützer*in helfen, die passenden Rollen zu finden.
Patient*innenbehandlung
Auch für die Patient:innen hat sich bereits einiges geändert. Eine Woche vor ihrem stationären Aufenthalt findet die Patient:innenschulung statt. Dort erhalten die Patient:innen alle relevanten Informationen und Einweisungen, damit sie ihre Aufenthalt dann möglichst eigenständig und aktiv durchlaufen können.
Statt einer Visite gibt es eine Visiten-Sprechstunde, zu welcher die Patient:innen kommen. In dem geschützen Raum - anders als wenn im Nachbarbett jemand zuhört – kann so eine intensivere Begegnung stattfinden.
Für die Kontrolle ihrer Vitalzeichen, die Tabletten für den Tag und manchmal auch ein kleines Schwätzchen kommen die Patient:innen morgens in den Stationsstützpunkt. Dort bekommen sie auch ihr Frühstück. Ebenso wie alle anderen Mahlzeiten. Denn das Essen wir nicht mehr im Zimmer serviert. Stattdessen treffen sich die Patient:innen zum gemeinsamen Essen im Patient:innenbistro. Hier genießen sie den Austausch, sondern auch die gegenseitige Empathie für das Leid, welches jede*r in ähnlicher Weise gerade durchlebt.
Der weitere Weg
Die Veränderung hat damit aber erst begonnen. Im Arbeitsalltag werden die Prozesse weiter definiert und an aufkommende Bedürfnisse adaptiert. Weitere für den Stationsbetrieb notwendige Rollen werden entwickelt sowie besetzt und so das Rollenkonzept vervollständigt. Dafür gibt es verbunden mit der Mittagsübergabe täglich ein Sync-Meeting, in dem aktuelle Spannungen bearbeitet werden. In einem wöchentlich stattfindenden Governance-Meeting wird dann gemeinsam über die Vorschläge Rollen und Regeln der Zusammenarbeit entschieden.
Das spannungsbasierte Arbeiten führt weg von einer gewohnten Problemorientierung hin zu einer neuen Lösungsorientierung. Diese ungewohnte Form der Eigenverantwortung und die noch fehlenden Strukturen lösen dann auch mal das Gefühl von Stress und Überforderung aus. Aber die Veränderung von jahrzehntelang gewachsenen Strukturen braucht Geduld. Dabei ist eine Herausforderung nicht in alte Muster zu verfallen. Aber auch nach den ersten Wochen ist die Stimmung weiterhin optimistisch, dass alle lernen können neue Wege zu gehen. Dabei helfen sicherlich die Patient*innen. Die sind begeistert und fühlen sich sehr wohl auf „Meine Station“.
Und so freuen sich die Pionier:innen weiterhin darauf, die Herausforderung der Veränderung gemeinsam zu meistern.